
Foto ©Barbara Aumüller
Einer der Gründe, warum ich für die Neuinszenierung von Boris Godunow nach Frankfurt reiste, war zweifellos die Entscheidung des Theaters, Mussorgskys Partitur in der von Dmitri Schostakowitsch orchestrierten Fassung aufzuführen, die in Westeuropa wenig bekannt ist. Im Vergleich zu der opulenten und farbenreichen Instrumentierung Rimski-Korsakows bemühte sich Schostakowitsch, die von Mussorgsky gewünschten Klangfarben durch den prominenten Einsatz von Blasinstrumenten und die wichtige Rolle des Schlagwerks beizubehalten. Ein weiterer wichtiger Grund für mein Interesse war, nach vielen Jahren die Fassung von 1872 mit dem polnischen Akt und der Szene im Kromjer Wald wiederzuhören. Ich finde sie wesentlich wirkungsvoller und theatralischer als die Fassung von 1869, den sogenannten Ur-Boris, der heute von den Theatern bevorzugt wird, meiner Meinung nach auch aus außermusikalischen Gründen. Die Originalfassung, die zu Lebzeiten des Komponisten nie aufgeführt wurde, sieht den Wegfall dreier Hauptrollen vor (Marina, Rangoni und des Prätendenten Dmitri, der im ersten Entwurf nur kurz auftritt) sowie der Schlussszene im Kromy-Wald. Diese ist lang, komplex und erfordert aufgrund ihrer Schwierigkeit umfangreiche Proben von Orchester und Chor. Die Fassung von 1872 hebt das kollektive Drama des russischen Volkes, das Puschkins Tragödie prägt und auf der Mussorgski das Libretto seiner Oper basierte, wesentlich stärker hervor. Indem die dramatische Kraft der Musik in der Schlussszene, in der die Chöre außergewöhnliche Höhepunkte dramatischer Spannung erreichen, aufgegeben wird, wird die gesamte Aussagekraft des Dramas geschwächt.

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Die Oper Frankfurt hat die szenische Leitung dieser Neuproduktion Keith Warner anvertraut, dessen Wiederaufnahme der wunderschönen Peter Grimes-Inszenierung ich kürzlich bewundert habe. Der 68-jährige englische Regisseur inszenierte das kollektive Drama eines Volkes in einer zeitlich unbestimmten Atmosphäre, mit Kostümen aus verschiedenen Epochen. Das Bühnenbild bestand aus einer schlichten, sich drehenden Konstruktion, die durch sorgfältig abgestimmte Beleuchtung und mehrere Videos die Höhepunkte des Geschehens eindrucksvoll hervorhob. Die fließende, dynamische Erzählweise und die zurückhaltenden, souveränen Darbietungen der Solisten und des Chors machten die Aufführung zu einem äußerst interessanten und ästhetisch ansprechenden Erlebnis.

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Die Musik dieser Partitur, außergewöhnlich in ihrer dramatischen Wirkung, ihrer Ausdruckskraft und ihrer Modernität, wurde unter der Leitung von Thomas Guggeis perfekt umgesetzt. Der 32-jährige Generalmusikdirektor der Oper Frankfurt bot eine Aufführung auf höchstem Niveau, die die dramatische Spannung der Erzählung, die Vielfalt der Orchesterfarben und die epische Größe der Massenszenen gekonnt vereinte. Auch die Flexibilität der Phrasierung und die perfekte Balance zwischen Orchestergraben und Bühne waren exzellent, sodass die Sängerinnen und Sänger nie überfordert wirkten. Eine weitere großartige Interpretation dieses jungen, aber hochqualifizierten Musikers, der gerade sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern gegeben hat und sich zunehmend als eines der besten Dirigententalente der jüngsten Generationen etabliert. Nach dieser großartigen Aufführung erwarte ich mit Spannung sein Debüt in Tristan und Isolde, das Guggeis im kommenden April an der Oper Frankfurt fur das erste Mal dirigieren wird.
Boris Godunow ist eine Oper, die die Ressourcen eines Theaters aufgrund der großen Besetzung mit mehreren anspruchsvollen Rollen stark fordert. In der Titelrolle bot der 49-jährige ukrainische Bass Alexander Tsymbalyuk, seit über 20 Jahren festes Mitglied des Ensembles der Hamburgischen Staatsoper, eine überaus wirkungsvolle Gesangs- und Bühnenleistung, die sich durch Charisma, ausdrucksstarke Phrasierung und makellose Ausdruckskraft auszeichnete. Die Krönungsszene, die Uhrenszene und die Todesszene wurden von dem in Odessa geborenen Sänger auf absolut beispielhafte Weise dargeboten, wodurch die psychologische Tiefe seiner Charakterisierungen deutlich wurde. Andreas Bauer Kanabas, mit seiner dunklen, kraftvollen Stimme, hat die Rolle des Pimen perfekt verkorpert. Auch Tenor Dmitry Golovin überzeugte als Prätendent Grigory mit Leidenschaft und szenischer Wirkung. Die serbische Mezzosopranistin Sofjia Petrović war als Marina Micek wahrhaft erstaunlich für eine bemerkenswerte Stimme von großem Volumen und fesselndem Farbklang. Der amerikanische Tenor Michael McCown überzeugte ebenfalls als Gottesnarr, dessen herzzerreißende Klage die Fassung von 1872 auf außerordentlich bewegende Weise beschließt. Alle Nebenrollen waren gleichermaßen exzellent besetzt, insbesondere Claudia Mahnke als Wirtin, deren Professionalität wie immer makellos war. Das Haus war voll besetzt, und die Aufführung war ein durchschlagender Erfolg. Fast zehn Minuten Applaus am Ende zeugten von einer wahrhaft herausragenden Leistung.
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Jetzt bin ich aber gespannt. Ich freue mich auf nächsten Freitag!
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